Freitag, 1. Mai 2015

Der Sozialethiker Wilhelm Weber in einer Zeit des Umbruchs


Wilhelm Webers Wirken fiel weltpolitisch in die Zeit des Kalten Krieges. Obwohl seit 1966 ein Prozeß der Entspannung einsetzte, ging die weltanschauliche Auseinandersetzung zwischen der liberalen westlichen und der sozialistischen östlichen Welt unvermindert weiter. Innenpolitisch war es die Zeit des Umbruchs von der Nachkriegszeit, die unter dem Zeichen des Wiederaufbaus unter Konrad Adenauer gestanden hatte, zur sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt und Helmut Schmidt. Der Einfluß der Katholischen Soziallehre in Gesellschaft und Staat war deutlich zurückgegangen. Diese wurde auch nicht mehr von einem geschlossenen katholischen Milieu getragen. Insbesondere große Teile der jungen Generation brachen aus dem sicher geglaubten Gefüge politischer und gesellschaftlicher Traditionen aus. Diese tiefgreifenden Wandlungen vollzogen sich besonders vehement an den Hochschulen. Emanzipation und Demokratisierung wurden zu dominanten Leitbildern in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. 
Diese anfangs eher liberalen Bestrebungen verbanden sich in Deutschland, vielen Ländern Westeuropas und Lateinamerikas zunehmend mit sozialistischem Gedankengut, so daß auch ursprüngliche Befürworter der neuen Bewegung mit der Zeit von dieser abrückten. Auch die Theologie der Befreiung entsprang anfänglich emanzipatorischen Bedürfnissen unterdrückter Völker und nahm dann immer mehr marxistisches Gedankengut auf. Fatal wirkte sich aus, daß viele Theologen, die sich für die Armen ihrer Länder einsetzen wollten, die empirische Soziologie überhaupt nicht kannten. So meinten sie, marxistische Gesellschaftsanalyse wäre die einzig brauchbare zur Erfassung und Kennzeichnung der in ihren Ländern vorfindbaren gesellschaftlichen Verhältnisse. Dazu wurde von marxistisch-leninistischer Seite alles unternommen, um empirisch-analytische Soziologie als „bürgerlich“ zu diffamieren. Marxistische Bewegungen in Lateinamerika wurden finanziell und ideell massiv von der Supermacht Sowjetunion unterstützt.
Das ist der politisch-ideologische Hintergrund, auf dem Wilhelm Webers Arbeiten zu interpretieren und zu würdigen sind. Sicher war der bodenständige Sauerländer Weber kein Freund von politischen Bewegungen, hatte er sich doch schon in seiner Jugend ablehnend gegenüber der nationalsozialistischen Bewegung verhalten. Aber er hätte  sich  mit   der  Emanzipationsbewegung  eher  anfreunden können, wenn sie in gemäßigt liberalen Bahnen geblieben wäre. Denn wie seine Vorgänger auf dem Lehrstuhl in Münster hatte er seinen Frieden mit dem politischen und wirtschaftlichen Liberalismus geschlossen, wenn er auch einen ungezügelten Wettbewerb ablehnte und das ordnende Handeln des Menschen als wirtschaftliches Subjekt hervorhob. Wie sein Vorgänger Höffner stand er auf dem Boden des Ordoliberalismus, mag er auch stärker als dieser die Gemeinwohlgerechtigkeit eingefordert haben. Weber sprach sich mitunter für einen dritten Weg aus, der für ihn aber ohne Zweifel näher beim Liberalismus als beim Sozialismus lag. Als kompetenter Wirtschaftswissenschaftler erkannte er deutlich die utopischen Elemente sozialistischer Zukunftsträume. Er wußte auch, daß unrealistische Politikambitionen von ideologischen Weltverbesserern in Gewalt und Unterdrückung umschlagen mußten. Weber erkannte derartige Gefahren in der Zeit des Kalten Krieges nicht allein für sein eigenes Land, sondern auch für den südamerikanischen Kontinent. Man muß sich in Erinnerung rufen, daß von Kuba aus über die „Unidad Popular“ Salvador Allendes in Chile und die sandinistische Regierung Nicaraguas der sozialistische Siegeszug angetreten werden sollte. Webers entschiedener Kampf gegen die marxistisch inspirierte und unterwanderte „Theologie der Befreiung“ ist auf diesem Hintergrund eines weltpolitischen Konfliktes zu sehen, dessen sich seine Zuhörer nicht immer bewußt waren, meinten sie doch oft idealistisch, sich für Gerechtigkeit in der Welt und gegen Armut und Ausbeutung einzusetzen, ohne aber die freiheitsbedrohende Macht des Sozialismus zu erkennen. Weber hatte jedoch das ganze Ausmaß zweier antagonistischer politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und weltanschaulicher Systeme vor Augen. 
Weber war kein Stubengelehrter, den die Geschicke dieser Welt nichts angingen. Im Gegensatz zu den voreingenommenen Gegnern der Katholischen Soziallehre, die sich jetzt auch im Bereich der Theologie, nämlich einer „politischen Theologie“ einfanden, setzte er auf die weltgestaltende Kraft einer Soziallehre aus dem Glauben. Er stand voll in den Spuren seiner Vorgänger, die immer bestrebt waren, die Christliche Soziallehre in den Dienst einer gemeinwohlorientierten Gestaltung des gesellschaftlichen und politischen Lebens zu stellen. 
Weber wußte wie seine Vorgänger, daß politische Praxis aus der christlichen Perspektive nicht allein mit Theologie zu beeinflussen ist, sondern daß es dazu der modernen Kultur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften bedarf. So hat er die Sozial- und Wirtschaftsethik mit den empirischen und analytischen Wissenschaften angereichert. Er war sich der Wandelbarkeit aller gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse bewußt. Seine hervorragende wirtschaftswissenschaftliche Qualifikation wurde auch von seinen Gegnern nicht in Frage gestellt, aber er wurde verdächtigt, ein Gegner der Soziologie zu sein. Dabei haben sie wichtige Differenzierungen nicht wahrgenommen. Weber hatte sich nicht nur umfassende Kenntnisse der allgemeinen soziologischen Theorie, der Familien-, Arbeits- und Berufssoziologie, der Wirtschafts- und Betriebssoziologie, der Religions- und Kirchensoziologie angeeignet, sondern diese auch in seine Sozial- und Wirtschaftsethik, in die Sozial- und Familienpolitik sowie Wirtschaftspolitik eingebaut. Er kannte die notwendig instrumentelle Funktion der Soziologie, aber er kannte eben auch die methodischen Grenzen dieser neuzeitlichen Disziplin, um die auch hervorragende Vertreter dieser Fachdisziplin wie René König, Erwin K. Scheuch, Helmut Schelsky, Friedrich H. Tenbruck wußten. Sie hatten davor gewarnt, Soziologie zur Sozialphilosophie, erst recht zu einer Schlüsselwissenschaft und universalen Weltbild werden zu lassen. Gerade als soziologisch versierter Philosoph und Theologe erfaßte Weber, daß viele seiner Fachkollegen nicht die exakten soziologischen Methoden gebrauchen wollten, sondern von der Soziologie als Weltbild fasziniert waren. Diese Überschreitung der Grenzen des soziologischen Faches, die vor allem durch die Frankfurter Soziologenschule einerseits, aber auch durch weltanschauliche Positivisten andererseits erfolgte, fand Webers berechtigte Kritik. Wie die Soziologen Helmut Schelsky und Friedrich Tenbruck wies er den Anspruch der Allein- und Totalerklärung durch die Soziologie zurück. Diesen weltanschaulichen ‚Mehrwert‘ hatte er im Sinn, wenn er warnte, daß Theologie „bei dem massiven Eindringen der Soziologie in die Theologie und in kirchliches Sprechen und Handeln“ (Rauscher: Wilhelm Weber †, 1984, S. 20), ihre Eigenständigkeit verlieren würde, ja daß die Glaubensverkündigung ihre autochthone dynamische und menschenbewegende Kraft einbüßen könnte. Muß diese den Nerv von Theologie und Kirche treffende Fragestellung in einer sich säkularisierenden Welt nicht gründlicher bedacht werden? Muß nicht sogar die Frage erlaubt sein, wenn Theologen Webers Buch weithin verschweigen, daß sie in ihren Selbstsäkularisierungstendenzen nicht gestört werden wollen? Kassandra ist nie geliebt worden.
Webers unerschütterlicher Antimarxismus würde heute souveräner beurteilt. Leider hat er die befreienden Stunden der weltpolitischen Wende, die den jahrzehntelangen Konflikt zwischen der westlichen und der östlichen Welt beendete, und den damit verbundenen Stimmungsumschwung in den Hörsälen der Universitäten und in der Gesellschaft nicht mehr erlebt. Wahrscheinlich hätten sich auch seine Hörsäle wie bei etlichen Professoren, die dem Zeitgeist des Neomarxismus über Jahrzehnte widerstanden, wieder schlagartig gefüllt. Auch wenn Menschen ungern Irrtümer eingestehen, so haben sie doch ein treffendes Gespür für den Weitblick von Zeitgenossen, die über den Tellerrand eigener politischer Befangenheit hinauszublicken und zu denken bereit und fähig sind. Weber hatte nicht allein den Durchblick bei den wissenschaftlichen Schwachstellen des Marxismus-Leninismus und den Inhumanitäten der staatlich-politischen Realisierungsversuche  dieser Ideologie,  er  hatte zudem  den Mut und die Kraft, die Inkompetenz dieser politökonomischen Weltanschauung öffentlich aufzuzeigen und zu brandmarken, auch dort, wo man von dieser Entlarvung in der Zeit politischer Koexistenz nichts wissen wollte. Jedoch wäre ihm wohl mancher Hader erspart geblieben, wenn er sich psychologisch stärker auf die Mentalität seiner Kontrahenten eingestellt hätte, ohne seiner Überzeugung untreu zu werden. Er kämpfte mitunter mit dem schweren Säbel, wo das leichte Florett wirksamer gewesen wäre.
Dank erfuhr er für seinen unermüdlichen Einsatz zwar nicht allein, aber doch vorrangig vom Bund Katholischer Unternehmer, dem er Jahrzehnte als wissenschaftlicher und geistlicher Berater die Treue hielt. Da er selbst kein Unternehmer war, selbst einer einfachen Arbeitnehmerfamilie entstammte, nie persönlichen Reichtum gewann, läßt sich ja fragen, was ihn motiviert hat, diese Beratungstätigkeit mit so großem persönlichen Engagement zu betreiben. Gewiß, der BKU hat sein Institut finanziell unterstützt, wenn dies auch nicht mehr in dem Ausmaß möglich war, wie dies in der Zeit seines Vorgängers geschah, aber in der Fakultät hat ihm dieser Einsatz wohl kaum mehr Reputation eingebracht. Finanzielle Beweggründe dürften nicht ausreichen, wenn man im Sinne der Frankfurter Schule nach seinem interessegeleiteten Handeln fragt. Weber war zutiefst überzeugt, daß die Institution des wirtschaftlichen Unternehmers und seine kreativen Leistungen ein entscheidendes Element der Freiheit im gesellschaftlichen und politischen System der Bundesrepublik, ja des euratlantischen Raumes darstellt. Deshalb machte er auch dem BKU immer wieder bewußt, daß eigentlich eine Interessenidentität zwischen der freiheitsstiftenden Kraft der Katholischen Kirche, ihrer Soziallehre und der Freiheit des privaten Unternehmertums besteht: „In beiden Fällen handelt es sich um persönliche und korporationsrechtliche Freiheitsräume, und der Angriff auf einen (...) von ihnen zieht nach dem Gesetz, nachdem die radikaldemokratisch-systemsprengenden Kräfte angetreten sind, logisch und praktisch unweigerlich den Angriff auch auf alle anderen Freiheitsräume nach sich.“ (W. Weber: Hat der Bund Katholischer Unternehmer eine spezifische Aufgabe. In: Ders., Person in Gesellschaft, 1978, S. 362) Deshalb ermunterte er den Bund Katholischer Unternehmer, auch in schwieriger Zeit, in der aus dem katholischen Raum manch unberechtigter Vorwurf die Unternehmer hart traf, der Katholischen Soziallehre die Treue zu halten: „Der BKU wird gut daran tun, nicht ausgerechnet in einer Zeit der Irrungen und Wirrungen und der tödlichen Gefahren für eine freiheitliche Gesellschaftsordnung jenes Instrument eines ordnungspolitischen Realismus aus der Hand zu geben, das in der katholischen Soziallehre bereitliegt.“ (Ebd.)
 Weber war nicht allein der entschiedene Vertreter des BKU im Raum der Kirche, der Wissenschaft und der Gesellschaft, sondern nahm auch seine Aufgabe als geistlicher Mahner sehr ernst: Im Unternehmern „ist es außerordentlich wichtig, daß Fähigkeiten und Talente von Mitarbeitern erkannt werden und entsprechend zum Einsatz kommen. Der gute Unternehmer muß daher die Zeit finden, seine Mitarbeiter wirklich kennenzulernen. Der letzte Sinn des Wirtschaftens, dem auch der Unternehmer verpflichtet ist, kann nur die Entfaltung des Humanums sein.“  (Ebd. S. 325) Die Humanisierung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Welt war sein persönliches Ziel, und dies ist auch das Ziel christlicher Sozial- und Wirtschaftsethik. Diese Zielperspektive weitete Weber auf den europäischen und internationalen Raum aus. 
Dabei vernachlässigte er nicht seinen privaten, häuslichen Bereich. 1970 hatte er mit der Familie seiner Schwester in Münster-Gremmendorf ein eigenes Haus bezogen. Den Verwandten war er herzlich verbunden und den dort heranwachsenden drei Kindern „bester Freund und Ratgeber“. Alle, die ihn näher kannten, lobten seine Herzensgüte, seine Geselligkeit, seinen feinsinnigen Humor, der Außenstehenden so oft verborgen blieb. Er pflegte einen bescheidenen, aber familienorientierten, Geborgenheit schaffenden Lebensstil. Er lebte, was er lehrte: „Gerade die Familie ist, entgegen den Invektiven mancher Kritiker, ein Einübungsraum für echte Menschlichkeit, auch für Freiheit.“ (W. Weber: Bedrohung der Freiheit - Bedrohung des Menschen. Rheinberg 1978).
 Die Familie seiner Schwester gab ihm die Kraft, gegen alle Stürme der Zeit durchzuhalten und sich von den Herausforderungen der Hochschule und des öffentlichen Lebens zu erholen. Trotz gewisser Beschneidungen hat Weber das Institut für Christliche Sozialwissenschaften in die Zeit nach der politischen Wende hinübergerettet, als der neomarxistische Spuk an den Hochschulen sein abruptes Ende fand, und die Wissenschaft in Forschung und Lehre wieder ungestört durch drangsalierende Ideologien ihren sachgerechten Aufgaben nachgehen konnte. Für den zweiten Weber auf dem Hitze-Lehrstuhl kam es zwar nicht so bedrohlich wie für den ersten Weber, der seinen Lehrstuhl und sein Institut zwangsweise aufgeben mußte, aber doch persönlich nicht weniger gesundheitsschädigend. Die staatliche Demokratie ist zwar in den siebziger und achtziger Jahren anders als in den dreißiger Jahren nie ernstlich in Gefahr gewesen, aber manche extremen Auswüchse an den Hochschulen erinnerten den historisch bewußten Hochschullehrer an die Exzesse zu Beginn der dreißiger Jahre, „die böse historische Kontinuität der Vergewaltigung des Mitmenschen aus Gesinnung“ (E. Scheuch: Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft, 1968, S. 11), mögen die ideologischen Vorzeichen auch nicht übereingestimmt haben. Es war der vergleichbare „totalitäre Charakter“ einer Bewegung, die Wilhelm Weber herausgefordert hat und der er sich mutig, standfest und selbstlos entgegengestemmt hat.








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