Dienstag, 3. März 2015

Rezension zu "Sozialethik im Wandel der Zeit"


Antworten auf die Zeichen der Zeit

Manfred Hermanns lesenswerte Darstellung der Geschichte des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre in Münster
DT vom 19.07.2007 

Von Klaus Klother

Mit der Veröffentlichung der Sozialenzyklika „Rerum novarum“ durch Papst Leo XIII. im Jahr 1891 widmete sich erstmals ein universalkirchliches Dokument eines in der damaligen Zeit hochbrisanten sozialen Themas – der Arbeiter-frage. Die Enzyklika gilt als Meilenstein auf dem Weg zu einer katholischen Soziallehre. Dieser umfassende Prozess vollzog sich auf drei miteinander verbundenen Wegen: Erstens wurde durch „Rerum novarum“ der Grundstein zur kirchlichen Sozialverkündigung gelegt. Zweitens organisierte sich (schon Jahre vor dem Erscheinen der Enzyklika) die Basis des „politischen Katholizismus“ in Verbänden, Vereinen und Bewegungen. Drittens befasste man sich wissenschaftlich-reflexiv mit den Theorien zu einer christlichen Gesellschaftslehre. Ausdruck und gleichzeitig Ergebnis dieser wissenschaftlich-reflexiven Theoriebildung ist der Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre in Münster.

Ein lang vermisstes Forschungsdesiderat

Durch seine Arbeit „Sozialethik im Wandel der Zeit. Geschichte des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre in Münster 1893–1997“ erfüllt Autor Manfred Hermanns ein „lange vermisstes Forschungsdesiderat“, nämlich eine umfassende und detaillierte Darstellung der Geschichte des Lehrstuhls sowie des daran angeschlossenen 1951 gegründeten Instituts für Christliche Sozialwissenschaften. In chronologisch geordneter Aufreihung wird in diesem Werk die wechselseitige Bedeutung von Zeit-, Kirchen- und Theologie-geschichte verdeutlicht. Die Geschichte des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre in Münster, wie sie von Hermanns skizziert wird, spiegelt somit auch den dreisträngigen Entwicklungsprozess katholischer Soziallehre wider.

Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf das soziale Umfeld der Lehrstuhl-inhaber gelegt, was neben den jeweils ausreichend erläuterten systematischen Ansätzen für sehr anschauliche Bilder von Franz Hitze, Heinrich Weber, Joseph Höffner, Wilhelm Weber und Franz Furger sorgt. So schienen beispielsweise der persönliche und berufliche Werdegang von Franz Hitze durch seine Herkunft aus dem katholisch-bodenständigen Sauerland, seiner Mitgliedschaft in der Würzburger Unitas, der engen Verbindung zum katholischen Milieu und der früh entdeckten Begeisterung für die Arbeiten des sozialen Bischofs Wilhelm Emmanuel von Ketteler nicht unbeeinflusst gewesen zu sein. Der junge Kaplan Heinrich Weber wurde zum Diözesansekretär des neu gegründeten Caritasverbandes des Bistums Münster ernannt und konnte somit einerseits früh Kontakte knüpfen und andererseits die hier gewonnenen Erfahrungen in seinen parallel laufenden Studien und schließlich in seine volkswirtschaftliche Dissertation über „Das Lebensrecht der Wohlfahrtspflege“ mit einfließen lassen.

Manfred Hermanns, der selbst ein Schüler von Joseph Höffner ist, ergänzt die durch Archivarbeit gewonnenen und in den Kontext der Sozial-, Kirchen- und Wissenschaftsgeschichte eingegliederten Fakten durch die biographische Darstellung jener fünf Persönlichkeiten, die den Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre in Münster wie auch die Entwicklung der katholischen Soziallehre in Deutschland entscheidend beeinflusst haben. Die verschiedenen Problemfelder in der Geschichte der christlichen Gesellschaftslehre und Sozialethik spiegeln sich in den Amtszeiten der jeweiligen Lehrstuhlinhaber ebenso wider wie die darauf reagierenden Antworten und Lösungsvorschläge: Die sozialen und gesellschafts-politischen Probleme der Kaiserzeit (Franz Hitze), der Weimarer Republik sowie der nationalsozialistischen Gewalt-herrschaft in Deutschland (Heinrich Weber), die Fragen und Probleme des rehabilitierten Deutschlands in der Ära Adenauer (Joseph Höffner), die bewegenden Jahre des Zweiten Vatikanischen Konzils sowie die Auseinander-setzung mit der Befreiungstheologie (Wilhelm Weber) und der Zeit des Postkommunismus (Franz Furger), in der Furger die Christliche Gesellschafts-lehre zu einer „Moraltheologie der gesellschaftlichen Belange“ zu reformieren versuchte und sich dabei neuen Themen und Herausforderungen wie Umwelt-, Medizin- oder Bioethik stellte.

Gemeinsamer Nenner von fünf Professoren

Bei allen Diskontinuitäten in der Geschichte des Lehrstuhls, die sich unter anderem in den unterschiedlichen Bekanntheitsgraden der jeweiligen Lehrstuhlinhaber zu ihrer Zeit ausdrücken, fällt doch im Rückblick die Kontinuität ins Auge. Im Wandel der Zeit wurde „aus dem Geist der sozialen Gerechtigkeit und der sozialen Liebe“ auf die Fragen von Kirche und Gesellschaft, und damit letztlich auf die Fragen des Menschen eingegangen. Manfred Hermanns bringt die Gemeinsamkeit der fünf Professoren auf den Punkt: „Ihre Interpretation von Recht und Politik erfolgte aus den moralischen Imperativen des biblischen Glaubens.“

Mit diesem Geschichtswerk über den Lehrstuhl für Christliche Gesellschafts-lehre in Münster wollte der Autor auch ein „Handbuch zur Geschichte der Christliche Sozialwissenschaft“ vorlegen. Das ist ihm gelungen. Die vom Münsteraner Lehrstuhl, der lange Zeit der einzige deutschsprachige Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre war, geleistete Sozialwissenschaft bedeutete „Erforschung der jeweiligen gesellschaftlichen Wirklichkeit und sozialethische Orientierung zur Beurteilung der sich wandelnden zeitbedingten sozialen Tatsachen“. Was schon seinen Vorgängern vor Augen schwebte, vermochte Joseph Höffner in seinem Verständnis von christlicher Gesellschaftslehre zu systematisieren: die integrierende Verknüpfung von seinswissenschaftlichen Disziplinen wie der Soziologie mit Sozialmetaphysik und normativen Disziplinen. So vermag die Christliche Gesellschaftslehre seit ihren Anfängen pauschalisierte Gegenüberstellungen wie zum Beispiel „Wirtschaft versus Caritas“ zu vermeiden.

Die am Lehrstuhl sowie dem zugehörigen Institut Lehrenden haben nach Ansicht von Bischof Reinhard Lettmann einen „wesentlichen Beitrag für die Entwicklung des Zusammenlebens in Staat und Gesellschaft in unserem Land auf der Grundlage eines christlichen Menschenbildes“ geleistet. Die zahlreichen – gerade auch innertheologischen – Kritiker der Christlichen Gesellschaftslehre als eigener theologischer Disziplin sollten sich einmal die praktischen gesellschaftlichen, politischen und sozialen Erfolge christlich-sozialethischer Reflexion anschauen, um zu erkennen, welche Möglichkeiten und Pflichten Kirche und Theologie haben, auf die Zeichen der Zeit zu reagieren. Die bisherige Erfolgsgeschichte der Christlichen Gesellschaftslehre – am Beispiel und Vorbild des Lehrstuhls in Münster – aufgezeigt zu haben, ist der bemerkenswerte Verdienst von Manfred Hermanns.

Manfred Hermanns: Sozialethik im Wandel der Zeit. Persönlichkeiten – Forschungen – Wirkungen des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre und des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster 1893–1997 (Abhandlungen zur Sozialethik, Band 49). Ferdinand Schöningh, Paderborn-München-Wien-Zürich 2006, 541 Seiten, 13 s/w Abbildungen, kart.

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